ESG, Digitalisierung, New Work, KI und ein absehbar nicht gefestigter Markt – Führungskräfte in der Immobilienbranche stehen heute vor einem komplexen Geflecht von Herausforderungen. Mit unilateraler Erfahrung und Kompetenz allein wird es zunehmend schwierig, ein Immobilienunternehmen in solch stürmischer See auf Kurs zu halten. Dies ist aber auch eine Chance, neue Strategien zu erproben. Mit der „polymathischen Führung“1 stellen wir Ihnen diesmal in unserer Newsroom-Reihe Valdivia Zukunft: Governance einen Modellansatz vor, der erkennbar nachhaltiges Potenzial besitzt.
Das Prinzip
Im Kern wirkt polymathische Führung, indem sie Fach- und Anwendungswissen verschiedener Bereiche stimmig verbindet. Dazu kombiniert sie ein tiefgehendes Verständnis dieser Bereiche und orchestriert damit interdisziplinäre Teams und Aufgaben. Michael E. Araki beschreibt die polymathische Führung in seiner Arbeit zu dem Thema als „ein Modell von Führungsverhalten, das das Erreichen eines höheren Niveaus an Breite, Tiefe und Verbundenheit des Lernens in der Gruppe fördert. Es geht darum, sich gemeinsam über schwierige Probleme hinwegzusetzen und positive Veränderungen und Beiträge zur Gesellschaft zu leisten.“ (Seite 136/137)
Vom generalistischen Führungsstil unterscheidet sich der polymathische Ansatz durch eine tiefere, detaillierte Kenntnis der verschiedenen Fachgebiete. Entscheider:innen sollten die möglichen Beiträge aller Beteiligter einschätzen und neue, auch ungewohnte Verbindungen erkennen können.
Die Vorteile
Polymathische Führung ist darauf ausgerichtet, Herausforderungen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und ganzheitliche, kreative Antworten zu finden. Als Beispiel können einige der „out of the box“-Lösungen zur Umwandlung leerstehender Bürogebäude dienen, die wir 2024 in einem Beitrag vorgestellt hatten.
Wichtige Merkmale polymathischer Führung sind Flexibilität, Offenheit, Neugier, Empathie, aber auch selbstkritisches und tiefgründiges Denken. Diese Kombination befähigt polymathische Führungskräfte, unvoreingenommen mit unterschiedlichen Standpunkten umzugehen und damit interdisziplinäre Teams anzusprechen und mitzureißen. So stärken sie gerade in Zeiten des Umbruchs und schneller Veränderungen die Resilienz der gesamten Organisation und können komplexe Herausforderungen besser bewältigen.
Weiterbildung als Fundament
Es liegt auf der Hand, dass eine polymathische Führung eine kontinuierliche Weiterbildung und laufenden Kontakt zur Entwicklung in den verschiedenen Disziplinen benötigt. Für zeitlich stark beanspruchte Führungskräfte bietet sich dazu eine Kombination von Methoden an:
- Microlearning
Phasen klassischer Weiterbildung zu größeren Themenkomplexen lassen sich durch selbstgesteuertes Microlearning ergänzen. Dies sind kurze Lerneinheiten zu bestimmten Themen oder Fähigkeiten. Vermittelt werden solche Inhalte durch Videos, Podcasts oder Mikro-Onlinekurse, die in wenigen Minuten das Wissen erweitern, bereits Vorhandenes ins Gedächtnis rufen oder eine bestimmte Fähigkeit trainieren.
- Lernen in der Gruppe
Laut einer Studie2 lernen 84 % aller Führungskräfte in Gruppen besonders erfolgreich. Da viele Unternehmen zunehmend auf selbstgesteuertes oder digitales Lernen setzen, empfehlen sich kollegiale Lerngruppen als Ergänzung, die verantwortliches Lernen stärken und einen Raum zu praktischen Übungen bieten.
- Assessment
Angesichts der Vielzahl möglicher Themen und eines knappen Zeitbudgets sind Tests bzw. Selbsttests ein wichtiges Steuerungsinstrument der Weiterbildung: Welche Themen sollten Priorität haben? Welche Fortschritte habe ich im Bereich X erreicht? Welche Bereiche kann ich aktuell überspringen? Eine regelmäßige Überprüfung hilft der polymathischen Führung, systematisch das Wesentliche zu erkennen und kein Thema ins Abseits gleiten zu lassen.
- Inhouse-Knowhow
Eine wertvolle Wissensquelle sind die Fachleute im eigenen oder in Partnerunternehmen. Von ihnen können sich Führungskräfte zielgerichtet und effizient über aktuelle Entwicklungen oder wichtige Grundlagen informieren lassen. Geeignete Formate reichen von informativen Gesprächen und Einzelreferaten bis hin zu regelrechten Inhouse-Kongressen.
Tragwerk der Eigenschaften
Im Kern polymathischer Führung stehen Breite und Tiefe im Denken sowie die Fähigkeit, mögliche, neue Verbindungen zu erkennen. Daneben nennt Araki (Seite 138 ff.) weitere Erfolgsfaktoren dieses Führungsstils, so u.a.
- „Beidhändigkeit“, d.h. die Fähigkeit, scheinbar disparate oder gegensätzliche Fähigkeiten, Haltungen oder Konzepte gleichermaßen gut und ausgewogen einzusetzen;
- Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und den Mut, neu erkannte Wege auch tatsächlich zu beschreiten und dabei Bewährtes in Frage zu stellen.
Mit all diesen Merkmalen wirkt polymathische Führung nicht nur auf der operativen Ebene. Sie setzt bereits in der Zusammenstellung der Teams und Förderung der Mitarbeitenden an und hat positiven Einfluss bis tief hinab in psychosoziale Faktoren wie Selbstwahrnehmung, Normen und Denkweise der gesamten Organisation.
Gerade für eine bislang oft noch traditionell geprägte Branche wie die Bau- und Immobilienwirtschaft ist polymathische Führung damit ein ideales Instrument, notwendige Umbrüche zu nutzen und neue, nachhaltige Geschäftsmodelle zu entwickeln.
(Fußnoten)
- Michael E. Araki, „Polymathic Leadership: Theoretical Foundation and Construct Development“ (Rio de Janeiro 2015) – eine frühe, ausführliche Darstellung; der englische Volltext steht zum Download zur Verfügung.
- Development Dimensions International, Inc., „Global Leadership Forecast 2021“
(Bildquelle: KI-generiert mit DALL‑E)